Ruckers-Konferenz im Händel-Haus, Halle, September 1996: Bericht und Kommentar

“So are they all, all honourable men”

(Aus: William Shakespeare: Julius Caesar
Marc Antony, über die ehrenwerte Gesellschaft,
die Augenblicke zuvor ihre Schwerter in Caesars Blut tränkte)

I. Zielsetzung des Colloquiums

Zu diesem Kolloquium wurden Experten aus aller Welt berufen, um ein Urteil über ein altes Cembalo zu fällen, das offenkundig bereits durch Menschenhände Horrendes erlitten hatte – ein Schicksal, dem die wenigsten Instrumente vergangener Zeiten entweichen konnten. Die Fragestellung war allen klar: soll das Ruckers – Cembalo “restauriert” – will heissen: wieder spielbar gemacht – oder soll es “konserviert” werden – was eine Einschränkung der Zerfallsphänomene ohne Rücksicht auf eine künftige Spielbarkeit bedeutete. Des Abends versammelte sich die Gesellschaft im engen Nebenraum um die vier eigens für die Referate nach Halle gebrachten Cembali – das hauseigene Ruckers von 1599, das Ruckers aus dem Museum in Leipzig, ein transponierendes spanisches (Bartolomeu Risueño, Toledo, 1664) und ein “ravaliertes” zweimanualiges Instrument (Andreas Ruckers, Antwerpen, 1628), beides von einer privaten Sammlung freundlicherweise zur Verfügung gestellt – und genoß gemeinsam in gelassener Atmosphäre eine erquickliche Kostprobe der Klänge, ohne von der Heftigkeit der Polemik der darauffolgenden Tage die geringste Ahnung gespürt zu haben.

II. Das Ruckers-Cembalo vom 1599

Angesichts der nicht unerheblichen Verantwortung für den projizierten chirurgischen Angriff auf das genannte Ruckers-Cembalo strebten offensichtlich die Hallenser Gastgeber Vollständigkeit bei der geladenen Vortragenden an: zum Podium gebeten wurden die Museen von Antwerpen, Den Haag, Paris, London, Edinburgh, Colmar, Leipzig, Berlin, sowie Metropolitan (N.Y.), Smithsonian (Washington) und Vermillion (S. Dakota, USA), Privatsammler, Restaurierungsatelier und Cembalobauer. Die Verquickung ließ nicht lange auf sich warten. Über die Sünde mancher vergangener Eingriffe wurde hier gepredigt (nicht nur in weitzurückliegender Vergangenheit, selbst angesehene Restauratoren unserer Tage wie Frank Hubbard – wird vermutet – vergingen sich kläglich an die alten wehrlosen Kielflügel), andere Restaurierungen wurden für mustergültig erklärt.

Da aber die überwiegende Mehrzahl der Experten eindeutig auf der Seite der Konservierung stand, blieb der vom Direktor des Halle Museums heißersehnte Segen über das Projekt der Restaurierung aus! Lakonisch lautet das Urteil: Hände weg! Saiten weg! (um die Spannung am Resonanzboden zu reduzieren). Die Argumente leuchteten bedauerlicherweise ein: die jetzige Mensur vertrüge nur Messingsaiten, die Tastatur ergäbe eine Transposition, die man heute nicht unbeding im Konzert verwenden kann, u.v.m. Dem Direktor wurden viele Alternativvorschläge unterbreitet, darunter, daß man zwar das Cembalo ausstellt, daneben als “Klangprobe” eine spielbare Kopie desgleichen hinstellt. Auch eine “Teilrestaurierung” einer Tastatur, eines Registers, usf. stand zur Diskussion. Zwei der geäußerten Kommentare verdienen wegen ihrer Stringenz unsere besondere Aufmerksamkeit. Erstens, in einer bewegende Fürbitte wies Michael Latcham (Den Haag) auf die dringende Notwendigkeit hin, alle in Museenkeller liegenden Instrumente einer sofortiger Konservierung zu unterziehen, dadurch den Zerfallsprozessen Einhalt zu bieten: man solle alle konservieren bevor man einzelne zu Restaurieren beginnt. Auch ernst zu nehmen ist die Frage Laurence Libins (Metropolitan Museum), wie sich ein Museum vor den Steuerzahlern rechtfertigen soll, die eigentlich etwas “Echtes” in diesen Häusern erleben wollen? Soll man nicht zumindest diejenigen Instrumente spielbar machen, bei denen sich der Aufwand aus technischen und klanglichen Gründen zugleich lohnt?

Halle ist ein klarer Fall: wenn der Museumsdirektor endlich einsehen würde, daß das Ruckers-Cembalo nicht, wie er meint, das wertvollste seines Hauses ist (alle Experten sind darüber einig!), könnte er seine Aufmerksamkeit auf die wirklich wertvollen italienischen Cembali und vielen anderen Instrumente seiner Sammlung richten, die in kurzer Zeit spielbar zu machen wären.

III. Aus Musikersicht

Hier schreibe ich, was ich damals – ob der versammelten Koryphäen – nur zu denken, nicht aber zu sagen vermochte, nämlich: wie würde es um unsere Kunstmuseen bestellt sein, wenn sie allesamt – der gemeinhin mehr als bekannten destruktiven Wirkung des Lichtes auf die Farben und Substanz der kostbaren Gemälde wegen – gezwungen wären, dieselbigen hinter einem Schutzvorhang zu “konservieren” und direkt daneben von heutigen akademischen Künstlern angefertigte Kopien als die eigentlichen Ausstellungsobjekte an den Wänden ihrem steuerentrichtenden Publikum zu präsentieren? Welcher Mensch aus Fleisch und Blut würde sich dann von einem solchen Museum angelockt fühlen. Ist nicht der wohltuende, besänftigende, harmonische Klang dieser Instrumente gerade das, was einer Pflege und Aufbewahrung in einem Museum würdig wäre, oder wollen die Verfechter einer Konservierung – «Who, you all know, are honourable men» – diese Cembali – nunmehr ihrer Stimme beraubt – zu reizenden Möbelstücken der Prachtresidenzen verflossener Zeiten degradieren?

Das ebenfalls im Kolloquium erörtete Argument, man müsse diese Instrumente für die Menschen in tausend Jahren aufbewahren, leuchtet angesichts vergangener Entwicklungen kaum ein. Wer glaubt, daß den heutigen Konzert- bzw. Museumsbesucher die musikalischen Unterhaltungen eines Charlemagnes restlos interessieren? Oder – übertreibend – wollen wir gar des Pharaos Hoforchester auf die Bühne bitten (ungeachtet dessen, daß möglicherweise jene ihre Hüften schwenkenden Damen weit mehr “Gemeinsamkeiten” mit dem heutigen Konzertbetrieb aufwiesen)? Derlei wäre höchstens eine Kuriosität, nicht aber eine spürbar in uns noch lebende Tradition.

IV. Das Ausklingen einer Tradition

Vermuten wir, hingegen, im heutigen Menschen – in einigen wenigen, zumindest – die Sensibilität, durch jene heute noch leise schwingenden Wellen des phänomenologisch unerklärlich gewaltigen, humanistischen Urknalls des Spätmittelalters und der Renaissance – ja, Kaiserreiche und Weltkriege haben eben diese Wellen doch nicht völlig zu dämpfen vermocht – spontan sowohl geistig wie leiblich synchron in Schwingung versetzt zu werden, so glauben wir in ihm die Fortsetzung eben dieser lebenden Tradition zu erkennen, die Gefahr läuft, in absehbarer Zeit aus dieser Welt zu scheiden. Die Brücken zu dieser Vergangenheit sind zerbrechlich genug: Die Komponisten sind des Todes, doch leben in ihren Partituren die Gedanken, die sie uns vermachen wollten. Die Instrumentenbauer beschworen die Geheimnisse ihrer Kunst herauf, um in ihre Schöpfungen den inspirierenden Reiz des Klanges einzuhauchen.

Wenn schon dieses schwache Bündnis zwischen dem heutigen Restaurator, dem Musiker und dem aufmerksamen Zuhörer jener Tradition auf Erden eine zeitlich befristete Verlängerung gewähren soll, ist es angebracht, diese Verbindung zwischen den damaligen Instrumenten und dem heutigen Menschen zu unterbrechen?

V. Ein unerwartetes Schlußwort – vertont

Die Debatten verklangen, die mit Vehemenz, mit Leidenschaft, zuweilen mit Inbrunst vorgetragen wurden. Nach dem Abendmahl fanden wir uns zum abschließenden Konzert erneut im Vortragssaal ein, voller Eindrücke, voller Gedanken, die sich in uns nun allmählich legten, um die für das Hörerlebnis nötige Ruhe einkehren zu lassen. Das Schicksal fügte es, daß der Solist des Abends, Bob van Asperen, vor der Wahl zwischen dem schon bei den bisherigen musikalischen Darbietungen zu Diensten gestandenen modernen Kopie und – eben – dem alten Ruckers-Cembalo aus Hamburg stehend, ausgerechnet letzteres wählte: somit gehörte alleine dem ehrwürdigen alten Instrument während einer ganzen Stunde das Schußwort des Kolloquiums, das lediglich durch gelegentlichen Applaus seine Gliederung erfuhr.

Vergebens suchte man nach Worten, um dieses unser Erlebnis an jenem Abend gebührlich zu beschreiben. Selbst die Kleistsche Heilige Cäcilie bewirkte weniger Wunder als dieses, welches uns in diesem Augenblick zuteil wurde. Sobald die ersten Tasten niedergedrückt wurden, schien sich der ganze Saal mit einem unbeschreiblich berauschenden Klang von einer wundersamen Resonanz zu füllen, der beinahe schmerzhaft in die Ohren hinein drang, und der sich nicht eher legte, bevor der letzte Ton im Raum verklang. Mir dämmerte es plötzlich: es war, als ob die vier Kielflügel stillschweigend alles mitgehört hätten, was wir Menschen während dreier Tage über sie und ihr Schicksal rätselten. Weshalb sie, als letzte Hoffnung, ihre Botschaft an die Menschheit dem tapferen Ruckers-Cembalo auf den Weg zur Bühne anvertrauten: es solle stellvertretend für sie “sprechen”. Und es sprach, würdevoll und eloquent:

« O piteous spectacle! / O woeful day!
O judgement, thou are fled to brutish beasts,
And men have lost their reason! » (Shakespeare, Julius Caesar)

Wer von uns wagt jetzt als erster sein Schwert in solch eine noble Kehle zu senken? Ob der Mensch – durch Holz, Draht und Leim – den Zerfall dieser Instrumente verlangsamt oder die Instrumente – durch die Offenbarung des universalen, reinen Dreiklanges – den Zerfall des Menschen? Diese Instrumente wollen uns noch viele Geschichten erzählen, die uns verwandeln können: hören wir doch noch eine Weile zu.

Friends, lend them your ears!

Prof. José Vázquez, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien